Am Dienstag vergangene Woche sprach der Ex-Oberbürgermeister von Kehl, Günther Petry, im Kehler Salon Voltaire über ein Thema von brennender Aktualität: „Nach mir die Sintflut“. In seinem engagierten Vortrag verband Petry persönliche Erfahrung, philosophische Reflexion und politische Analyse zu einem eindrucksvollen Plädoyer für Verantwortung und Nachdenklichkeit.
Mit zunehmendem Alter, sagte Petry, schrumpfe die persönliche Zukunft – und der Blick auf das Leben verändere sich. Aus dieser Perspektive fragte er: Wie leben wir, wenn wir wissen, dass die Zukunft endlich ist? Seine Antwort: durch Denken, Zweifel und das kleine, große Wort „Und“.
Offenheit statt Dogma
Das „Und“ wurde zum Leitmotiv des Abends. Es steht für Offenheit statt Dogma, für Dialog statt Polarisierung. Petry kritisierte, dass unsere Gesellschaft zwischen „Entweder-Oder“ und „Alternativlosigkeit“ gefangen sei. Wer das „Und“ denke, bewahre die Fähigkeit zum Gespräch – eine Voraussetzung jeder Demokratie.
Anknüpfend an den Kommunikationsforscher Paul Watzlawick betonte Petry, dass jeder Mensch seine Wirklichkeit selbst konstruiere. Daraus folge die Pflicht zur Toleranz: andere Ansichten aushalten, ohne sie zu teilen. Ideologien, so Petry, löschten das „Und“ aus – sie erzeugten Feindbilder und verhinderten Verstehen.
Von Kant bis Karl Marx
Ein Symbol für diese Haltung fand er in Madame de Pompadour, der Geliebten König Ludwigs XV., der der Satz „Nach uns die Sintflut“ zugeschrieben wird. Für Petry steht er für die Kurzsichtigkeit einer Epoche, die nur den Augenblick kennt. In der Moderne, sagte er, sei dieses Denken allgegenwärtig geworden – vom Konsum bis zur Politik.
Unter Rückgriff auf Philosophen wie Hans Jonas, Immanuel Kant, Karl Marx und Peter Sloterdijk zeichnete Petry die Linie vom Egoismus des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Sloterdijks „schreckliche Kinder der Neuzeit“ seien wir selbst – rastlos, gegenwartsfixiert und zukunftsvergessen.
„1984“ keine Warnung mehr
Die Sintflut sei heute keine Metapher mehr, sondern reale Bedrohung. Günther Petry nannte drei: Atomkrieg, Klimawandel und autokratische Systeme. „Wir spielen mit Kräften, die uns übersteigen“, warnte er. Die Rhetorik der „Kriegstüchtigkeit“ zeige, dass der belliphile Geist zurückgekehrt sei. „Wer nur moralisch urteilt, hört auf zu verstehen.“
Auch die digitale Welt blieb nicht ausgespart. George Orwells Roman „1984“, so Petry, sei keine Warnung mehr, sondern Beschreibung der Gegenwart. Tech-Giganten wie Google oder Meta würden bestimmen, was wir denken. Mit Projekten wie Neuralink rücke der Zugriff aufs menschliche Bewusstsein gefährlich nah. Demokratie drohe, „zu einer Simulation zu verkommen“.
Einfluss globaler Milliardäre
Politisch kritisierte Petry den Verlust klarer Haltungen. Die Linke, einst Anwältin des Gemeinwohls, habe sich in marktkonformes Denken eingepasst. „Deals statt Überzeugungen“, lautete sein Befund. Zugleich wachse der Einfluss globaler Milliardäre, die öffentliche Debatten dominieren.
Die Ökonomisierung des Lebens bezeichnete Petry als „große Entleerung der Werte“. Alles werde Ware: Daten, Wasser, Luft, ja selbst menschliche Beziehungen. Die Logik des Marktes verdränge moralische Maßstäbe. Freiheit werde zum Konsumgut, Verantwortung zum Randthema.
Losgelöst von Religion und Vernunft
Mit feinem Blick unterschied Petry zwischen Republik und Demokratie. Eine Republik diene dem Gemeinwohl, eine Demokratie folge der Mehrheit – erst in der Verbindung beider entstehe politische Reife. Besorgt zeigte er sich über den Verlust des Bürgerbegriffs. Wer nur noch von „Menschen“ spreche, vergesse, dass Bürger Träger von Verantwortung seien.
Ein weiteres Phänomen unserer Zeit nannte Petry die „Hypermoral“. Moral, losgelöst von Religion und Vernunft, sei zur Ersatzreligion geworden. „Empörung ersetzt Argument“, zitierte er zustimmend Alexander Grau. So entstehe eine Gesellschaft, die moralisch aufgeladen, aber inhaltlich leer sei.
Günther Petry bei seinem Vortrag im Salon Voltaire. Foto: Simona Ciubotaru
Gespräch zwischen den Generationen
Echte Freiheit, betonte Petry, verlange Selbstdisziplin, Maß und die Bereitschaft, Grenzen zu akzeptieren. Ohne Bindung verkomme Freiheit zu Willkür. Es gehe darum, „Freiheit als Verantwortung“ neu zu verstehen.
Von einer „Zeitenwende des Bewusstseins“ sprach er, in der alte Gewissheiten zerbröckeln. Die Älteren erlebten Verlust, die Jüngeren Überforderung. Nur das Gespräch zwischen den Generationen könne Orientierung schaffen.
„Gut sein, wo man ist“
Petrys Appell lautete: „Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst.“ Denken sei kein Luxus, sondern Überlebenskunst. Dazu gehöre auch „Informationsdisziplin“ – bewusster Umgang mit Medien, Abschalten von Push-Nachrichten, Rückgewinnung der eigenen Aufmerksamkeit.
Er zeigte, dass gesellschaftlicher Wandel im Kleinen beginnt. Freundlichkeit und Zivilität seien revolutionäre Akte. Eine Geste könne, wie Paul Watzlawick schrieb, eine „Kettenreaktion des Guten“ auslösen. „Gut sein, wo man ist“, nannte Petry eine Form des politischen Handelns.
Anfang einer neuen Ethik
Auch die Politik müsse sich erneuern. Er forderte mehr direkte Demokratie, stärkere Gewaltenteilung und echte Bürgerbeteiligung. Frieden, so Petry, beginne im Wort, nicht an der Front.
Zum Abschluss griff er zu einer Metapher: dem Blumengießen. Der Musiker Georg Kreisler habe darin einst den Rückzug ins Private beschrieben – nicht als Flucht, sondern als Selbstschutz. In einer überreizten Welt sei das Kleine oft der einzige Ort, an dem Menschlichkeit überlebe.
Eine E-Mail, die Petry zitierte, brachte diese Haltung auf den Punkt: „Wir helfen den Nahen, genießen die Natur – und gießen die Blumen.“ In diesen schlichten Handlungen, sagte er, liege vielleicht der Anfang einer neuen Ethik.
„Nach mir die Sintflut“ als Warnung
Das Publikum im Club Voltaire reagierte mit langem Applaus. Viele Zuhörer blieben noch im Gespräch, manche schwiegen nachdenklich. Petrys Vortrag war keine bloße Gesellschaftskritik, sondern ein Aufruf zur Selbstbesinnung – philosophisch klar, sprachlich eindringlich und frei von Pathos.
„Nach mir die Sintflut“, so sein Fazit, dürfe kein resignativer Satz bleiben, sondern müsse als Warnung verstanden werden. Denn die Sintflut beginne nicht draußen, sondern in unseren Köpfen. Nur wer denkt, zweifelt und handelt, könne sie aufhalten.
Mit diesem Appell endete ein Abend, der weit über Kehl hinaus nachhallt – ein Plädoyer für Vernunft, Maß und Menschlichkeit in unruhigen Zeiten.
Das könnte dich auch interessieren:
KI-Dystopie: Ludwig Hillenbrand warnt vor dem Verlust von Kreativität und selbständigem Denken
ANZEIGE
Ödsbacher Straße 6
77704 Oberkirch
Telefon: +49 7802 916 99 43
E-Mail: info@brandmediaberlin.de
Ödsbacher Straße 6
77704 Oberkirch
Telefon: +49 7802 916 99 43
E-Mail: info@brandmediaberlin.de
2025 | Ortenau Journal – Das Nachrichtenportal für die Ortenau