Mit der Lesung der renommierten Autorin und Publizistin Natalka Sniadanko fand die fünfteilige Veranstaltungsreihe „Worte überwinden Grenzen“ im Kulturhaus Kehl ihren Abschluss. Organisator war die Deutsch-Ukrainische Gesellschaft Ortenau e.V. (DUGO), die seit ihrer Gründung im Frühjahr sehr aktiv ist und absolut professionell ihre Veranstaltungen in Kehl organisiert.
Raum für Begegnungen
Die von der Deutsch-Ukrainischen Gesellschaft Ortenau e.V. (DUGO) organisierte und vom Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) aus Mitteln des Auswärtigen Amtes geförderte Reihe machte in Kehl Literatur zu einem Raum der Begegnung mit einer im Abendland immer noch viel zu wenig bekannten Kultur und Geschichte, und ermöglichte einen intensiven deutsch-ukrainischen Dialog auf gehobenem Niveau.
Schonungslose Offenlegung
Zwischen der Widerspiegelung der Vergangenheit des ukrainischen Volkes – das seit langer Zeit um seine Freiheit und Unabhängigkeit kämpft – und einer schonungslosen Offenlegung der gegenwärtigen Kriegsrealitäten fand eine tiefgehende politische Reflexion statt.

Margarita Koshyl von der DUGO. Foto: Simona Ciubotaru
„Unterschiedliche Perspektiven“
„Unser Ziel war es, durch die Begegnungen mit den ukrainischen Autorinnen Menschen für die Ukraine zu interessieren“, sagt Martin Kujawa, Vorstandsmitglied der DUGO. „Durch die Literatur konnten unterschiedliche Perspektiven der gegenwärtigen Situation eingenommen werden.“
Verflechtung mit russischer Literatur
Die Lesungen und Gespräche spannten einen weiten thematischen Bogen: von der engen Verflechtung der ukrainischen Literatur mit anderen Literaturen – auch der russischen – über den aktuellen Erinnerungsdiskurs, die Transformation und Instrumentalisierung von Sprache im Krieg bis hin zu den schmerzlichen Erfahrungen von Gewalt, Flucht und Verlust.
„Unverzichtbares Medium“
Auch gesellschaftskritische Aspekte wie Zwangsmobilisierungen oder Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit wurden reflektiert. Damit bestätigte sich, was der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch in seiner Rede zur Verleihung des Heinrich-Heine-Preises 2022 betonte: die Literatur als unverzichtbares Medium des Erinnerns und als Entwurf einer gerechteren Zukunft.
Sniadanko im Fokus
Im Zentrum des Abschlussabends stand Natalka Sniadanko, die aus ihrem Buch „Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde“ las. Moderiert haben Gertrud Deffner, Mitgründerin der DUGO, und Margarita Koshyl, Mitglied des Vorstands. Seitens der ifa und zuständig für das Projekt begrüßte das zahlreiche Publikum Karoline Gil.

(v.l.n.r.) Natalka Sniadanko, die Dolmetscherin Darya Romanenko und Karoline Gil. Foto: Simona Ciubotaru
Internationale Tätigkeiten
Die Autorin, Übersetzerin, Journalistin und Literaturwissenschaftlerin Natalka Sniadanko, 1973 in Lwiw geboren, ist seit Jahrzehnten eng mit Deutschland verbunden. Nach Studien in Lwiw und Freiburg, vielfältigen internationalen Tätigkeiten und einer beeindruckenden Arbeit als literarische Übersetzerin zählt sie heute zu den wichtigsten Stimmen der ukrainischen Gegenwartsliteratur. Seit 2023 promoviert sie und lehrt ukrainische Literatur an der Universität Leipzig.
Fragen von Identität
Ihr Roman verbindet die historisch verbürgte Figur des Erzherzogs Wilhelm von Habsburg mit der fiktiven Lebensgeschichte seiner Enkelin Halyna. In dieser vielschichtigen Verschränkung von Biografie, Fiktion und europäischer Geschichte entfaltete die Autorin eine Generationensaga, welche die Fragen von Identität, Unabhängigkeit und Zugehörigkeit behandelt – und zugleich einen tiefen Einblick in die Lebenswirklichkeit der Ukraine gibt.
Aktuelle Realitäten
Nach der Lesung sprach Natalka Sniadanko mit dem Ortenau Journal über die ukrainische Sprache, kulturelle Identität und Geschichte sowie über die aktuellen Realitäten in der Ukraine. „Die Leute wissen nur einen verfälschten Teil davon, der propagandistisch aggressiv von Russland benutzt wird“, so Sniadanko, die über zehn Jahre lang auch als Journalistin gearbeitet hat.
Kein untergeordneter Dialekt
Der erste Punkt war die ukrainische Sprache versus Russisch: Ukrainisch sei kein dem Russischen untergeordneter Dialekt, sondern eine Sprache, die sich aus der ostslawischen Sprachgruppe entwickelte – genauso wie die romanischen Sprachen aus dem Vulgärlatein (im Volk gesprochen) entstanden, aber ganz unterschiedlich sind.

Die Autorin Natalka Sniadanko im Gespräch mit dem Publikum. Foto: Simona Ciubotaru
Langjährige Besetzung
„Russland benutzt als Vorwand für seine Invasion in der Ukraine den Schutz der Russischsprechenden“, erklärte Sniadanko. Aber alle würden in der Ukraine auch Russisch sprechen, infolge der langjährigen Besetzung durch die Sowjetunion und ihrer sehr effizienten Russifizierungsmethoden. Der beste Beweis dafür, dass die Sprachen ganz unterschiedlich sind, sei die Tatsache, dass waschechte Russen keinen einzigen Brocken Ukrainisch verstünden.
„Tausende Künstler inhaftiert“
Ein anderer Aspekt ist der systematische und langjährige Versuch Russlands, die ukrainische Kultur und Identität auszulöschen. „Es wurden im 20. Jahrhundert Tausende Künstler und Intellektuelle unseres Landes inhaftiert und getötet“, erklärte Sniadanko. „Viele wurden sogar zum Anlass großer kommunistischer Feierlichkeiten in Gruppen, gemeinsam, wie Tiere abgeschlachtet.“
„Riesige Künstlerkolonie“
Es habe in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine kurze Phase der Ukrainisierung gegeben, als die Sowjets ihre Politik auflockerten. „Die ukrainische Kultur blühte auf, und in Charkiw, welche für eine Zeit Hauptstadt war, entstand eine riesige Künstlerkolonie.“ Es sollen um die 1000 Künstler dort beieinander gelebt haben. „Später wurden sie dort alle verhaftet und verschleppt, dann inhaftiert und getötet. Es habe Zeiten gegeben, in denen schon eine ukrainische Publikation oder eine Bibel zu besitzen oder nur ein bisschen Ukrainisch zu sprechen, Grund genug war, um als ‚Staatsfeind‘ verurteilt und hingerichtet zu werden.“

Natalka Sniadanko und Karoline Gil. Foto: Simona Ciubotaru
„Ukraine ukrainisiert“
Seit der russischen Invasion, vor allem seitdem die Bomben fallen und die Zivilbevölkerung massakriert wird, habe sich die Stimmung auch in der russifizierten und prorussischen Bevölkerung massiv verändert. „Niemand hat schneller die Ukraine wieder ukrainisiert als Putin – zu seiner Überraschung“, so Sniadanko.
Für die Bevölkerung musizieren
Obschon viele Künstler und Intellektuelle seit dem Ausbruch des Krieges gestorben seien – auch an der Front – pulsiere die ukrainische Kultur. Und zwar wortwörtlich unter der Erde – in den Schutzräumen, in Bunkern. Auch ukrainische Künstler, die seit langem im Ausland leben, würden jetzt in die Krisengebiete gehen und dort für die Bevölkerung musizieren sowie Theateraufführungen und Lesungen bieten, während draußen die russischen Bomben fallen. „Und viele halten Konzerte und Lesungen im Abendland, um ihrem Volk zu helfen“.
„Demütigung der Ukraine“
In Bezug auf den von den Präsidenten Trump und Putin vorgelegten Friedensplan glaubt die Autorin, dass die Ukrainer dies mehrheitlich ablehnen würden. „Das ist eine Demütigung für die Ukraine. Es ist kein Friedensabkommen, sondern der Zwang zur Kapitulation.“ Nach so viel Kampf und schmerzhaften Verlusten sei die Vorstellung, die verteidigten Gebiete an Russland abzutreten, für die Ukrainer absolut inakzeptabel.
Siehe auch hier:
Die Ukrainische Dichterin Lyuba Yakimchuk liest im Kulturhaus Kehl aus „Aprikosen aus dem Donbass“
Menü & Lesung mit Toni Vetrano – Ein Abend voller Genuss und Geschichten