Es war einmal, „Yesterday“, um es mit den Beatles zu singen. Musik ist definitiv unser Begleiter durchs Schicksal, durch Wellen Wind und Wogen, durch Stürme, Siege und Niederlagen. Fast einhundert Jahre Popkultur, vom frühen europäischen Jazz über Gospel und Blues bis zu Rock ’n‘ Roll und Rap, vom frühen Schlager der Comedian Harmonists über Pophits von Nena bis zu Madonna oder Britney Spears: Die Menschheit wurde ins 21. Jahrhundert hinein mit dem größten Schallarchiv aller Zeiten ausgestattet. Abrufbar und frei zugänglich für jeden, über Datenportale wie Spotify oder WhatsApp.
Musik ist heute mobil überall verfügbar. Foto: pixabay/jcomp
Doch schon vorher begleitete uns jeweils aktueller Klang, vor allem seit den 1950er Jahren ist immer Musik dabei: “Day by Day and Night by Night“ (Kevin Ayers). Somit ruhen unsere Erinnerungen an besondere Momente mit Musik stets in der Nähe und nicht nur in unseren Köpfen, denn schon lange ist populäre Musik Lieferant von Soundtracks für Jedermann. Wir “hören unser Erleben“, in Trauer wie bei Freude, und so ergeben diese besonderen Lebensmomente mitunter tolle Geschichten mit Musik. Und nun?
Musikalische Erinnerungen
Los geht’s: Ich beginne mit meinen musikalischen Erinnerungen, berichte von besonderen Momenten. Und zwar als Musik gestütztem „Road Movie“. Hoffentlich so anregend, dass sich auch viele unserer Leserinnen und Leser ebenfalls erinnern und gleichfalls Lust bekommen, ihre ganz eigenen „Geschichten mit Musik“ aufzuschreiben und an uns zu senden.
Leserbeiträge im Ortenau Journal
Achtung: die interessantesten, privaten “Filmmusiken“ in Form von Leserbeiträgen werden dann im Ortenau Journal veröffentlicht (die Redaktion behält sich die finale Auswahl vor). Bitte mit Namen und kurzem Hinweis auf Beruf oder Ausbildung und Alter, gerne auch mit einem persönlichen Foto, Selfie mit Plattencover o. ä. ergänzen. Schicksalsmelodien: Als Joe Cocker durch die Sylter Dünen schrie und mir Jahre später auf der Intensivstation ein paar Melodien für die Reha mit auf den Weg gab…
Sylt: Solche Bilder vergisst unser Kolumnist ganz sicher nie. – Foto: pixabay/photoangel
Wie alles begann
Es geschah im Norden, im ganz hohen Norden, im besten Teenager- Alter, “Verdamp Lang Her“, wie BAP circa zwanzig Jahre später auf Kölsch singen sollten. Wir Hamburger Schüler wurden einst mit unseren Klassen gerne nach Sylt in ein sehr großes, staatliches Schullandheim ins idyllische Puan Klent verschickt. Die gesamte Rantumer Dünenlandschaft steht dort heute unter Küstenschutz, genauso wie der angrenzende Nationalpark Wattenmeer.
Scheue Blicke
Dorthin ging es also mit unserer Klasse, wo wir auch auf viele andere Schulklassen aus anderen Schulen und Städten trafen. Das war aufregend, denn Pubertät beginnt ja bekanntlich für junge Menschen meist dann, wenn man irgendwie überraschend anderen Personen begegnet, die man attraktiv findet und scheue Blicke ins Staunen oder Starren übergehen. Bei mir so: Es war „In the Summertime“ (Mungo Jerry) in Puan Klent, als ich in den Bann des griechischen Gottes Eros geriet.
„Der fiese Möpp“
Der wird in der Mythologie als Gott der Liebe und des Begehrens dargestellt, oft auch als jener geflügelte Knabe, der mit Pfeil und Bogen ausgestattet anderen auflauert, um auf diese seine Liebespfeile abzuschießen und dabei diese in brennende Liebe zu entflammen. Der freche Knirps lacht sich wohl bei dem Chaos, welches er seit Ewigkeiten anrichtet, stets ins Fäustchen, der fiese Möpp. Jedenfalls war ich noch blutjung, unschuldig und wusste von der Welt nur, dass ein gewisser Elvis Presley seit gefühlten Ewigkeiten mit „In the Ghetto“ weltweit die Charts stürmte und es in Deutschland auf Platz 1 der Single-Charts schaffte, es aber drumherum auch noch viel gute Musik zum Hören gab.
Eine Art DJ
Vor allem Fußball begeisterte mich, als Jungspund sollte ich alsbald auf Linksaußen in der Knaben-, später dann in der Jugendelf des SC Sperber Hamburg (die Herren spielten damals noch in der Regionalliga Nord) auf Bolzplätzen auflaufen. Wesentlich mehr von der Welt hatte ich noch nicht wahrgenommen.
Zu der Zeit hatte ich aber schon einen tragbaren Kassettenrekorder (war so was wie die archaische Vorstufe vom späteren Ghettoblaster) mit einem recht guten Lautsprecher. Damit war ich oft der unüberhörbare Mittelpunkt unter Meinesgleichen, so eine Art DJ, lange bevor man es so nannte.
Lange Zeit waren tragbare Kassettenrekorder ein Prestigeobjekt. Foto: pixabay/telsco
Rekorder unterm Arm
Damit schien das folgende Ereignis irgendwie vorprogrammiert. Unsere Herberge hatte einen ellenlangen Flur, verbunden mit mehreren Gebäudetrakten. Das weltberühmte Woodstock-Festival war soeben als 3-LP-Set im Mai 1970 veröffentlicht worden und ich hatte bereits all diese fantastischen Songs auf Tape gewissermaßen unterm Arm im Rekorder dabei. Auch auf Klassenreise in Puan Klent, als gerade mal 13-jähriger Teenie.
Vorsprung durch Technik!
Der Gang durch die Flure war stets aufregend, viele wilde Kids und Lärm, Gewusel und Gedrängel, und dann irgendwie zwischen all den überwiegend fremden jungen Leuten aus allen Teilen des Landes, sahen wir uns, der Rekorder hatte einen Gurt und die coole Musik baumelte an meiner rechten Schulter und dröhnte durch den Flur. Vorsprung durch Technik!
Zwei Jahre älter
Ich also auf der Pirsch als natural born Dee Jay. Dann sah ich sie, sie stand in einer kleinen Gruppe von Kids und war jener Typ, der unübersehbar ist, „There is One in Every Crowd“, wie der Titel des dritten Studioalbums von Eric Clapton beziehungsreich lautete. Kurz, sie war mindestens zwei Jahre älter als ich und brauchte sich auch nicht groß anzustrengen um aufzufallen. Denn sie sah aus wie die US-Sängerin Marsha Hunt in jung (nun googelt mal schön, smile), allerdings ohne Afro Look, mit glattem, vollem schwarzen Haar. Schulterlang.
Kleiner Spaziergang
Sie lächelte mich an und ob ich da noch in der Lage war, volle Sätze sinnvoll mit Subjekt, Objekt und Prädikat zu formulieren, bezweifle ich sehr. Dennoch kamen wir schnell ins Gespräch und verabredeten uns für einen der kommenden Nachmittage. Wir trafen uns am Haupttor und beschlossen, einen kleinen Spaziergang durch die schöne Sylter Dünenlandschaft zu machen. Sie, mein Rekorder und ich.
Bravo-Starschnitt
Ich erinnere mich nur, dass wir beim betreten der sandigen Wege bereits Händchen hielten. Keine Ahnung, was ich Knirps, der in der Schule erst Jahre später “Aufklärungsunterricht“ bekam, dem hübschen Mädel so von mir zu berichten wusste, mit Sicherheit habe ich aber den Winnetou-“Bravo-Starschnitt“ aus meinem Kinderzimmer wohl eher nicht erwähnt. Sie kam aus Chile und ihre Eltern waren wohl irgendwo in den deutschen Süden ausgewandert, wo sie auch zur Schule ging.
Blauer Himmel über Sylt
Warum wir geradewegs und händchenhaltend tief in die Dünenlandschaft hinein spazierten, blieb rätselhaft, jedenfalls fanden wir alsbald eine passende Düne. Sie zog dort ihre Jeansjacke aus, der permanent fröhlich rockende Rekorder wurde daraufgestellt – und wir legten uns daneben – und hörten Musik. Über uns nur der klare blaue Himmel von Sylt. Sie hatte diesen schönen braunen Teint, wofür wir hellhäutigen Bleichgesichter uns stundenlang in die Sonne legen, weil wir diese Hautfarbe doch auch gerne haben möchten.
Explodierende Stimm-Urgewalt
Jedenfalls, daran erinnere ich mich noch. Und auch daran, dass ich auf dem Rekorder dann gezielt das Woodstock-Band vorspulte, bis zu jenem Moment, als diese bittersüße Wummerorgel den roten Teppich (atmosphärisch) für das unbezähmbare Organ des weißen Soulsängers Joe Cocker ausrollte, der sich dann im folgenden die Seele aus dem Leib röhrte, schrie, hauchte. Eine explodierende Stimm-Urgewalt, die dann in dem Beatles-Cover von “With a Little Help from my Friends“ auch noch solche Songzeilen wie “I Need Someone To Love“ sang.
So etwas wählte ich arglos und naiv, wie ich noch war, ausgerechnet für ein Rendezvous aus. Ein emotionales, leidenschaftliches, musikalisches Feuerwerk ohnegleichen, welches offenkundig zusätzliche Wirkung entfaltete. Weitere konkrete Erinnerungen daran habe ich nicht mehr, denn für mindestens eine Stunde war meine Seele irgendwo im Weltall. Wir zerwühlten den Dünensand gründlich, knutschten uns durch “Love In Outer Space“ (Sun Ra).
Keine Handys
Und dort, wo wir Liebe gemacht hatten, entstand am nächsten Tag bestimmt eine wilde Wanderdüne, welche vermutlich noch heute beim Wandern rund um die Insel leise “Can’t Help Falling in Love“ (Elvis Presley) summt. Leider war aber alles rasend schnell vorbei, es gab noch keine Handys, kein WhatsApp und von meiner ersten Visitenkarte war ich noch viele, viele Jahre entfernt.
Elvis lebt – wenn auch nur als Denkmal. Foto: pixabay/US-Reiseblogger
Zug Richtung Hamburg
Ende der Schulfahrt, ab nach Haus und aus. Heimfahrt, Abschied, schon so kurz nach dem ersten Kuss nun ein letzter Kuss am Bahnsteig vorm Zug in Richtung Hamburg. Mir war hundeelend. “Was hat denn der Junge?“ sollte meine Mutter schon am Hauptbahnhof fragen, als wir Pennäler wieder an unseren Heimatorten ankamen. Dieser Frage gingen in den darauffolgenden Tagen meine Mutter, meine ältere Schwester und meine Tante Alma nach, bei der wir zu Kaffee und Kuchen eingeladen waren.
Soundtrack für das Leben
Die Damen mit besorgten Blicken am Tisch und ich pausenlos in ein Kissen heulend auf dem Sofa, Cockers “With a Little Help From My Friends“ war für immer verbrannt. Zwei Takte von dem Song und ich löste mich in Tränen auf. Tja. Und Joe Cocker lieferte gleich noch einen weiteren Soundtrack für mein Leben auf emotionaler Achterbahn hinzu: “Cry Me a River“, (auf deutsch: heul mir nen Fluss voll).
Neue große Liebe
Ein Jahr, nachdem ich meinen ersten Liebeskummer ambulant überlebt hatte, bekam ich privaten Gitarrenunterricht bei Kalle Popp, ein Profi, der auch als Tour-Gitarrist für den britischen “Vater des weißen Blues“, Alexis Korner, unterwegs war. Das brachte eine neue große Liebe zu mir, die Liebe zum Blues. Der ist voll mit herrlichen Geschichten über die unabwendbare Situationskomik der Liebenden. Zeilen wie “Last night a big mama lyin over me“ lassen sich gut singen.
Wahnsinn in den Köpfen
Unvergessen jener Blues Daddy, der in einem interview den Wahnsinn in den Köpfen verliebter Männer wie folgend kommentierte: “Verknallte Typen machen sich stets zum Affen“ und ergänzte noch, “und unter allen Affen mach ich mich dann noch zum Vollidioten.“ Dass das Song-Motto “With a Little Help From My Friends“ samt Cocker-Zugabe Jahrzehnte nach meiner einstigen Sylter Liebesaffäre eine wichtige Bedeutung bekommen sollte, ahnte ich logischerweise in dieser Frühzeit nicht.
Inspirierende Therapeutin
Im März 2025 hatte ich bedauerlicherweise einen Schlaganfall, über dessen teils ungewöhnliche Folgen und auch meinen kreativen Umgang damit wird es im Ortenau Journal demnächst einen Podcast geben. Zur Sache: In der Musiktherapie in der BDH-Klinik in Elzach hatte ich die sehr hilfreiche und inspirierende Therapeutin Ulrike Mache. Bei der wählten wir uns stets Songs aus, mit denen ich auch meine beim Schlaganfall verlorene Gesangsstimme zurückholte und mit ihr zusammen sang.
Reißende Flüsse
Wieder landete ich bei Joe Cocker: “Many Rivers to Cross“ – wie sehr Recht dieser Satz hat, erlebt jeder Mensch beim Älterwerden. Der Song ging mir in der Reha ständig durch den Kopf, denn über Flüsse an andere Ufer müssen wir uns ein Leben lang retten, bzw. manchmal reißende Flüsse überqueren. Das ist eben: das Leben. Auf zu neuen Liedern.
Siehe auch hier:
Jürgen Stark´s Kulturkolumne #5: Die fragwürdige Arbeit der jeweils Mächtigen
Country is back in Town! Ob mit oder ohne Banjo! (Der Fortschritt lässt grüßen)
Jürgen Stark´s Kulturkolumne #1: Brücken über´m wilden Wasser
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