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„Ich mag es, den Teppich anzuheben“: Historikerin über die vergessene Zeit des KZ Natzweiler nach 1944

Das Lager Struthof 1945
© Stouvenel – Das KZ Natzweiler wurde nach dem Abzug der SS 1944 von den Franzosen als Internierungslager genutzt.
Eine Autostunde westlich von Straßburg liegt das ehemalige KZ Struthof – ein Ort mit doppelt schwerer Vergangenheit. Die frühere Leiterin der Gedenkstätte CERD, Frédérique Neau-Dufour, hat jahrelang zur kaum bekannten 2. Phase des Lagers geforscht und darüber ein Buch geschrieben: Nach dem Abzug der SS nutzten französische Behörden das Gelände 1944/45 zur Internierung von vermeintlichen Nazi-Kollaborateuren und deutschen Zivilisten. Im Interview spricht sie über ihre Erkenntnisse.
Von Peter Cleiß

Nach nur einer knappen Stunde Fahrzeit von Straßburg gen Westen durch das “vallée de labruch“ nach Schirmeck-Rothau und dann weiter nach Natzwiller gelangt man zur Gedenkstätte „Europäisches Zentrum des deportierten Widerstandskämpfers“ (CERD). Zahlreiche Schulklassen und sonstige Besucher, auch von deutscher Seite, haben in den zurückliegenden Jahrzehnten das ehemalige KZ Natzweiler-Struthof besucht und die bedrückende Geschichte der dort ab 1941 Inhaftierten kennen gelernt.

Unbekannte 2. Phase des KZ

Dass die Geschichte des Struthof zwei Teile hat, eine von 1941-1944 und eine zweite von Dezember 1944 bis November 1945, war immer wieder Gerüchteweise zu hören. Jetzt hat die ehemalige Leiterin des CERD, Frédérique Neau-Dufour, den Schleier über diese Zeit gelüftet. Im Gespräch schildert Frau Neau-Dufour die Erkenntnisse aus ihren Nachforschungen.

Ortenau Journal: Sehr geehrte Frau Neau-Dufour, Sie waren viele Jahre lang die Leiterin der Gedenkstätte„Struthof“ im Elsass. Was hat Sie damals motiviert, diese Aufgabe zu übernehmen?

Frédérique Neau-Dufour: Zunächst einmal die Faszination für einen Ort. Das ehemalige Lager Natzweiler liegt auf einem wunderschönen Berg im üppigen Elsass, und doch war es einer der schrecklichsten Orte der Geschichte in Frankreich. Ich hatte Lust, dieses Paradoxon zu verstehen. Zweitens und vor allem hatte ich den Wunsch, an der Erhaltung des außergewöhnlichen baulichen Erbes dieses Lagers mitzuwirken, seine Geschichte weiterzugeben und dafür zu sorgen, dass das Wort der letzten europäischen Überlebenden dieses Lagers gehört wird. Die ehemaligen Deportierten von Natzweiler kennengelernt zu haben, war für mich eine Gründungserfahrung, die mich dazu verpflichtete, für ihr Andenken zu handeln.

Ortenau Journal: Welche Erkenntnisse aus dieser Tätigkeit waren für Sie persönlich und für die Besucher des Struthofs besonders wichtig?

Frédérique Neau-Dufour: Nach acht Jahren als Leiterin des Centre Européen du Résistant Déporté (CERD) ist meine wichtigste Lehre, dass jeder Mensch die Möglichkeit des Besten und des Schlimmsten in sich birgt. Im Lager kam diese Wahrheit auf extreme Weise zum Ausdruck: Einige hungernde Deportierte schafften es, ihr Brot mit anderen zuteilen. Andere waren dazu nicht in der Lage. Was die SS betraf, so hatten sie jegliche Menschlichkeit verloren, waren sie doch zweifellos ebenfalls einmal kleine, sorglose Jungen gewesen. Ich möchte auch, dass die Menschen durch den Besuch dieses Lagers verstehen, dass demokratische Institutionen zerbrechlich sind und dass die Geschichte sehr abrupt kippen kann.

Frédérique Neau-Dufour

Foto: Frédérique Neau-Dufour

Ortenau Journal: Haben Sie den französischen Besuchern eine andere Bedeutung beigemessen als den deutschen?

Frédérique Neau-Dufour: Ich habe allen Besuchern die gleiche Bedeutung beigemessen, aber ich habe Instrumente zugunsten der deutschen Besucher entwickelt, insbesondere durch die Übersetzung des Besuchsmaterials. Die Verleihung des Europäischen Kulturerbe-Siegels 2018, gemeinsam mit den auf der anderen Seite des Rheins gelegenen Nebenlagern von Natzweiler, hat diese Tendenz ebenfalls beschleunigt.

Ortenau Journal: Die breite Öffentlichkeit kennt den Struthof als Internierungs- und Vernichtungslager der Nationalsozialisten. Sie haben ein Buch über die Zeit nach 1944 geschrieben, in der das Lager von den Franzosen für die sogenannte Säuberung des Elsass von den Nazis genutzt wurde. Wussten Sie schon vor Beginn Ihrer Arbeit auf dem Struthof, dass es diese Periode auch ab 1944 gab?

Frédérique Neau-Dufour: Das Nazilager hieß Natzweiler und war ein Konzentrationslager, kein Vernichtungs- oder Internierungslager. Nach dem Abzug der SS im November 1944 wurde hingegen am selben Ort und in denselben Baracken ein anderes Lager errichtet. Diesmal handelt es sich um ein Internierungslager in den Händen der französischen Behörden. Das Lager ändert daraufhin seinen Namen und wird zu…le Struthof. Diese Geschichte war ziemlich unbekannt, als ich 2011 mein Amt beim CERD antrat.

Ortenau Journal: Was hat Sie dazu veranlasst, dieses Buch zu schreiben?

Frédérique Neau-Dufour: Die unerforschten Zwischenräume der Geschichte sind diejenigen, die mich interessieren. Ich mag es, dort nachzusehen, wo niemand nachsehen will. Ich mag es, den Teppich anzuheben, um den Staub darunter zu betrachten. Robert Steegmann hatte bereits eine schöne Dissertation über das Nazilager veröffentlicht, aber es gab keine wissenschaftliche Arbeit über die Zeit danach. Diese Stille zog mich an. Ich habe zehn Jahre Forschung darauf verwendet, sie zu durchbrechen.

Ortenau Journal: Wer waren die Häftlinge ab 1944? Waren sie Franzosen (Elsässer), Deutsche oder andere? Fühlten sich die Inhaftierten selbst als Franzosen oder Deutsche?

Frédérique Neau-Dufour: Die Internierten des französischen Lagers Struthof, das von Dezember 1944 bis November 1945 in Betrieb war, waren zunächst deutsche Zivilisten, die im Elsass,wo sie seit der Annexion lebten, festgenommen worden waren. Im November 1944 lebten zum Beispiel noch 30.000 Deutsche in Straßburg! Es handelte sich um Familien, Frauen, Kinder und manchmal auch alte Menschen, die als Bedrohung angesehen wurden, da der Krieg noch nicht zu Ende war. Es wurde daher angeordnet, sie ausnahmslos zu internieren. Zu diesen Deutschen gesellt sich eine andere Kategorie von Internierten, nämlich Franzosen, die alle im Departement Bas-Rhin wegen des Verdachts der Kollaboration mit den Nazis verhaftet wurden. Das Internierungslager ermöglichte es, sie vor ihrem Urteil festzuhalten, das oft erst nach mehreren Monaten eintrifft.

Ortenau Journal: Wie sind Sie an Informationen über die Behandlung der ab 1944 inhaftierten Personen gelangt?

Frédérique Neau-Dufour: Die Archive zu dieser Zeit der Säuberung wurden ab 2014 weitgehend geöffnet. Von da an konnte ich auf Dutzende Kartons in den Archiven des Elsass und auch in den Nationalarchiven zugreifen. Ich hatte auch das Glück, ein Dutzend ehemalige Internierte und viele ihrer Nachkommen befragen zu können, die eine oft tabuisierte Familienvergangenheit verstehen wollten.

Ortenau Journal: War diese zweite Periode ab 1944 im Struthof auch von Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeit seitens der Wärter gegenüber den Insassen geprägt?

Frédérique Neau-Dufour: Es gab, wie in jeder Periode zwischen Krieg und Frieden, vereinzelte Gewaltakte, die von Wärtern gegen Internierte verübt wurden, manchmal vom Lagerkommandanten oder mit seiner Billigung. In allen Fällen waren diese Übergriffe Gegenstand von Ermittlungen der Behörden und wurden bestraft. Abgesehen von diesen inakzeptablen Episoden gibt es jedoch eine Art Kontinuum mittlerer Gewalt, insbesondere bei den systematischen Diebstählen von Lebensmitteln durch die Wärter. Zu keinem Zeitpunkt waren diese Aktionen jedoch systematisch organisiert. Sie waren das Werk von Einzelpersonen oder Gruppen von Einzelpersonen, die in Bezug auf die militärische Hierarchie autonom funktionieren. Der Struthof ist weit weg von den Augen, weit weg von den Kontrollen.

Ortenau Journal: Gab es Personen, die während dieser zweiten Phase Opfer von Gewalt wurden oder gewaltsam starben?

Frédérique Neau-Dufour: Die Sterblichkeit war während der Zeit im Internierungslager moderat, und vor allem wird sie transparent wiedergegeben. Es wurde ein Sterberegister geführt, indem das Alter und die Todesursache vermerkt waren. Die Toten wurden nach einer kleinen religiösen Zeremonie auf einem eigens dafür angelegten Friedhof unterhalb des Lagers würdevoll beerdigt. Dieser Friedhof ist heute nicht mehr vorhanden und die Leichen wurden in andere Gräber umgebettet. Insgesamt gab es bei fast 8.000 Internierten 87 Todesfälle, hauptsächlich unter sehr alten deutschen Personen, die mitten im Winter 1944/45 interniert wurden. Es gab jedoch auch zwei oder drei Todesfälle, die auf einen Gewaltakt von Wärtern zurückzuführen waren oder angeblich darauf zurückzuführen waren. In einem dieser Fälle wurde der Wärter vor Gericht gestellt und verurteilt.

Ortenau Journal: Ist das lange Schweigen über die Zeit ab 1944 auf dem Struthof ein Beispiel dafür, dass die Geschichte, die wir hören, oft parteiisch und lückenhaft ist?

Frédérique Neau-Dufour: Die Geschichte ist nicht parteiisch oder lückenhaft, sie ist das, was gewesen ist. Was lückenhaft ist, ist die Forschung. Nicht, weil Forscher oder Regierungen oder Menschen etwas verbergen wollen, sondern ganz einfach, weil es unzählige Forschungsthemen gibt und weil man erst forschen kann, wenn die Archive geöffnet sind. Nun gibt es aber gesetzliche Fristen, bevor Forscher Zugang zu den Archiven erhalten. Diese Fristen ermöglichen es, die Privatsphäre der Betroffenen für einen angemessenen Zeitraum zu schützen. Also versuchen die Historiker, die Geschichte einzuholen, sie zu schreiben, und zwar auf möglichst unvoreingenommene Weise, d. h. mit mehreren Quellen und mit einem kritischen Blick.

Ortenau Journal: Welches Ziel verfolgten Sie mit Ihrer Veröffentlichung?

Frédérique Neau-Dufour: Meine Publikation sollte eine historische Lücke schließen, indem sie eine sehr heikle Episode näher beleuchtet, die für die Elsässer noch immer schmerzhaft ist und dem Rest der Franzosen und Deutschen unbekannt ist. Ich habe versucht, die Personen, die interniert wurden, würdig wie Menschen zu behandeln, indem ich ihre Geschichte und eventuell ihre Kompromisse erläuterte, ohne sie zu verurteilen. Das Internierungslager ist Teil der Geschichte und der Erinnerung von Natzweiler-Struthof. Und das CERD bereitet gerade Ausstellungselemente zu dieser Thematik vor, das ist eine großartige Sache.

Ortenau Journal: Haben Sie bereits Reaktionen von Lesern auf Ihr Buch erhalten? Was sagen Ihre Leser dazu?

Frédérique Neau-Dufour: Die Leser haben mir äußerst positive Reaktionen geschickt. Mir scheint, dass die Menschen im Jahr 2025 bereit sind, der Frage der Säuberung ins Auge zu sehen, sofern sie ohne Polemik angegangen wird. Ich wurde nach der Veröffentlichung auch von mehreren Nachkommen von Internierten kontaktiert, die beschlossen haben, Nachforschungen über ihren im Struthof internierten Großvater anzustellen. Ich finde ihre Haltung sehr mutig, da es sich nicht um eine glorreiche Familiengeschichte handelt. Ich ermutige sie, so gut ich kann. Manchmal bringen sie mir Elemente, die ich noch nicht kannte.

Ortenau Journal: Wird Ihr Buch auch auf Deutsch veröffentlicht werden?

Frédérique Neau-Dufour: Das wäre eine ausgezeichnete Sache. Denn die Geschichte des Struthofs im Jahr1945 betrifft Deutsche und Elsässer gleichermaßen. Und die Geschichte der deutschen Internierten ist vielleicht noch unbekannter. Keiner von ihnen wagte es nach dem Krieg, Ansprüche geltend zu machen, obwohl einige Familien aus Baden-Württemberg lange Monate in verschiedenen Lagern in Frankreich interniert waren, bevor sie 1946 nach Deutschland zurückkehrten.

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