Was haben ein mittelalterlicher Bauer in Gengenbach, eine Patrizierfamilie im barocken Offenburg und ein junges Paar im modernen Tiny House gemeinsam? Sie alle suchten nach dem, was wir heute „Zuhause“ nennen – einem Ort, der schützt, wärmt und Identität stiftet. Nur die Wege dorthin könnten unterschiedlicher nicht sein.
Wohnen im Spätmittelalter
Es war ein YouTube-Video über das Wohnen im Spätmittelalter, das mich auf diese Spurensuche schickte. Wie lebten Menschen vor 800 Jahren eigentlich in unserer Region? Wie entwickelte sich aus dem einfachen Einraumhaus die differenzierte Wohnkultur, die wir heute kennen? Und was können wir aus dieser Geschichte für unsere Zeit lernen, in der Tiny Houses, Mehrgenerationenhäuser und nachhaltiges Bauen neue alte Antworten auf zeitlose Fragen geben?
Reise durch die Wohnkultur
Als Journalist und bekennender Geschichtenliebhaber lade ich Sie ein zu einer Reise durch die Wohnkultur unserer Heimat – der Ortenau, diesem wunderbaren Flecken zwischen Rheinebene und Schwarzwald, mit einem Seitenblick ins benachbarte Elsass. Schnallen Sie sich an – es wird gemütlich!
Das Mittelalter: Als ein Raum für alles reichen musste
Stellen Sie sich vor, Sie teilen Ihren Wohnraum mit den Kühen. Nicht metaphorisch, sondern ganz konkret. Im 12. und 13. Jahrhundert war das für die meisten Menschen in unserer Region völlig normal. Das sogenannte Einhaus vereinte Wohn-, Schlaf- und Stallbereich unter einem Dach. Die Körperwärme der Tiere half beim Heizen – praktisch, aber wenig romantisch.
Besonders schöne Exemplare
Hast Du schon gewusst? Die ältesten erhaltenen Fachwerkhäuser in Deutschland stammen aus dem 13. Jahrhundert. In der Ortenau finden sich besonders schöne Exemplare in Gengenbach, Oberkirch und Zell am Harmersbach, deren Altstadtkerne noch heute von mittelalterlicher Baukunst geprägt sind. Während einfache Bauern in solchen Einhäusern lebten, residierte der Adel bereits deutlich komfortabler. Die Burgen und Adelssitze, die sich auf den Schwarzwaldhöhen aufreihten, zeigten schon damals eine Differenzierung der Räume: Rittersaal, Kemenate (beheizbarer Wohnraum), Küche und Schlafgemächer waren getrennt.

Andreas Peter Geng nimmt uns mit auf eine Reise, die vor 800 Jahren begann. Fotos: Geng / KI
Stadtgründungen im 12. Jahrhundert
Die Burg Ortenberg, deren Ursprünge ins 12. Jahrhundert zurückreichen, ist ein eindrucksvolles Beispiel für diese frühe Form der Raumaufteilung. Die Zähringer, jenes bedeutende Adelsgeschlecht, das im 12. und 13. Jahrhundert die Region prägte, gründeten systematisch Städte – darunter Offenburg (erste urkundliche Erwähnung 1148) und Gengenbach. Mit diesen Stadtgründungen entstand eine neue Form des Wohnens: das Bürgerhaus. Erstmals trennte sich Wohn- von Arbeitsbereich, auch wenn beides noch unter einem Dach vereint blieb.
Spätmittelalter & Renaissance: Fachwerk wird zur Kunstform
Im 14. bis 16. Jahrhundert erlebte die Region einen Bauboom. Das Fachwerkhaus entwickelte sich von einer reinen Zweckarchitektur zur kunstvollen Bauform. Warum? Das Aufblühen des Handels, die wachsende Bedeutung der Zünfte und der zunehmende Wohlstand des Bürgertums schufen neue Ansprüche. In Offenburg, das als Freie Reichsstadt im Spätmittelalter erheblich an Bedeutung gewann, entstanden prächtige Zunfthäuser und Patrizierhäuser.
Die wohlhabenden Kaufleute und Handwerker begannen, ihre Häuser zu differenzieren: Stube (beheizter Wohnraum), Küche, Kammer (Schlafraum) und oft noch ein repräsentatives Empfangszimmer bildeten nun die Grundstruktur.
Das Schwarze Kloster
Eine humorvolle Randnotiz: Die mittelalterliche „Stube“ war nicht etwa das Wohnzimmer mit Fernseher, sondern der einzige beheizte Raum im Haus. Hier spielte sich das gesamte Familienleben ab – Essen, Schlafen, Arbeiten, Streiten, Versöhnen. Heute würden wir das wohl „Open Concept Living“ nennen und als Trend verkaufen. Das Schwarze Kloster in Offenburg (erbaut im 13. Jahrhundert, später zur Schule umfunktioniert) zeigt eindrucksvoll, wie auch kirchliche Bauten die Wohnkultur beeinflussten: Kreuzgänge, Zellen, Gemeinschaftsräume – eine frühe Form des gemeinschaftlichen Wohnens, die heute in Co-Housing-Projekten eine Renaissance erlebt.
Schwarzwald-Spezifika: Wenn das Dach bis zum Boden reicht
Wer vom Wohnen in der Ortenau spricht, darf den Schwarzwald nicht vergessen. Hier entwickelte sich eine ganz eigene Baukultur, die bis heute Identität stiftet: das Schwarzwaldhaus. Mit seinem charakteristischen, weit heruntergezogenen Walmdach, das oft bis auf zwei Meter über dem Boden reicht, ist es perfekt an die klimatischen Bedingungen angepasst. Im Winter schützt das Dach vor Schneemassen, im Sommer bietet die Holzkonstruktion ein angenehmes Klima.

Vom Schwarzwaldhaus bis zur modernen Holzbauweise. Fotos: Geng / KI
Kühe im Erdgeschoss
Hast Du schon gewusst? Der Vogtsbauernhof, heute das berühmte Freilichtmuseum in Gutach, stammen aus dem Jahr 1570 und sind mit die ältesten erhaltenen Schwarzwaldhäuser. Hier könnt ihr hautnah erleben, wie Mensch und Vieh unter einem Dach lebten – die Kühe im Erdgeschoss, die Familie darüber. Das typische Schwarzwaldhaus war ein Kniestockhaus: Die Außenwände ragten nur wenig über die Decke des Erdgeschosses hinaus (der sogenannte Kniestock), darüber thronte das mächtige Dach. Diese Bauweise war nicht nur praktisch, sondern auch materialsparend – ein früher Vorläufer des nachhaltigen Bauens.
Die Fasnachtstradition und die berühmten Bollenhuttrachten sind übrigens eng mit dieser Wohnkultur verbunden: In den dunklen Stuben der Schwarzwaldhäuser wurden die kunstvollen Trachten gefertigt, die Holzmasken geschnitzt – Handwerkskunst und Wohnkultur verschmolzen zu einer Einheit.
Der Blick nach Westen: Elsässische Einflüsse
Die Ortenau war immer schon ein Ort der Begegnung – geografisch, kulturell und architektonisch. Der Rhein trennte nicht, er verband. Und so ist es kein Wunder, dass das Elsass erhebliche Einflüsse auf unsere Wohnkultur hatte. Die prächtigen Fachwerkhäuser in Straßburg und Colmar, mit ihren bunt bemalten Balken und kunstvoll verzierten Erkern, dienten auch den wohlhabenden Bürgern diesseits des Rheins als Vorbilder.
Elsässische Bauweise
Die typisch elsässische Bauweise mit den vorkragenden Obergeschossen (jedes Stockwerk ragt etwas über das untere hinaus) findet sich auch in Offenburg und Gengenbach. Eine kulturelle Pointe: Was auf der einen Seite des Rheins „Stube“ hieß, nannte man auf der anderen Seite „Stub“. Die Wohnkultur sprach viele Dialekte – aber alle verstanden sich.
18. und 19. Jahrhundert: Als die Moderne Einzug hielt
Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert veränderte sich die Wohnkultur fundamental. Die ersten Arbeiterwohnungen entstanden, oft unter katastrophalen Bedingungen. Gleichzeitig baute das wohlhabende Bürgertum prächtige Gründerzeithäuser mit hohen Decken, Stuckarbeiten und erstmals mit getrennten Räumen für verschiedene Funktionen. In Offenburg entstanden entlang der heutigen Hauptstraße und rund um den Marktplatz prächtige Jugendstilvillen und repräsentative Bürgerhäuser. Erstmals gab es Salons zum Empfang von Gästen, Schlafzimmer waren vom Wohnbereich getrennt, und – Sensation! – die ersten Badezimmer mit fließendem Wasser hielten Einzug.
Hast Du schon gewusst? Die erste öffentliche Wasserversorgung in Offenburg wurde 1871 in Betrieb genommen. Vorher holte man das Wasser noch vom Brunnen. Ein Komfort, den wir heute als selbstverständlich empfinden.
Heute: Zwischen Tiny House und Mehrgenerationenhaus
Und heute? Wir leben in einer Zeit der Widersprüche und der Vielfalt. Während die durchschnittliche Wohnfläche pro Person in Deutschland bei etwa 47 Quadratmetern liegt, träumen immer mehr Menschen vom minimalistischen Leben im Tiny House mit gerade mal 16-30 Quadratmetern.

Tiny-Häuser werden als Wohnform immer beliebter. Fotos: Geng / KI
Wachsender Tiny-House-Markt
Laut aktuellen Marktstudien wächst der europäische Tiny-House-Markt jährlich um 4,1 Prozent und soll bis 2029 einen Wert von über 2,3 Milliarden US-Dollar erreichen. In der Ortenau, wo Bauland knapp und teuer ist, könnte diese Wohnform durchaus eine Alternative sein – wenn die rechtlichen Hürden überwunden werden. Gleichzeitig erlebt das Mehrgenerationenhaus eine Renaissance. 35 Prozent der Deutschen können sich laut einer Interhyp-Studie vorstellen, mit mehreren Generationen unter einem Dach zu leben. Eine Rückkehr zu alten Werten? Vielleicht. Oder eine intelligente Antwort auf steigende Immobilienpreise, Vereinsamung im Alter und den Wunsch nach Gemeinschaft.
Holz als Baustoff der Zukunft
Der Holzbau, eine uralte Tradition im Schwarzwald, erlebt seine zweite Blüte. Das „Age of Timber“ – Zeitalter des Holzes – ist angebrochen. Nachhaltigkeit, CO2-Speicherung, schnelle Bauzeiten und gesundes Wohnklima machen Holz zum Baustoff der Zukunft. Handwerksbetriebe wie Wurth Holz in Kappel-Grafenhausen verbinden traditionelles Schreinerhandwerk mit modernster CNC-Technologie – eine perfekte Symbiose aus Alt und Neu.
Was bleibt? Ein Fazit mit Ausblick
Nach dieser Reise durch 800 Jahre Wohnkultur wird eines deutlich: Der Mensch sucht seit jeher nach einem Ort, der mehr ist als vier Wände und ein Dach. Wir suchen Geborgenheit, Identität und Gemeinschaft. Die Entwicklung vom Einraumhaus zur differenzierten Wohnung, vom Fachwerk zum Fertighaus, vom Burgensaal zum Home-Office spiegelt nicht nur technischen Fortschritt wider. Sie erzählt von veränderten Familien- und Gesellschaftsstrukturen, von Wohlstand und Krisen, von Individualismus und dem Wunsch nach Gemeinschaft.
Zwischen Tradition und Moderne
In der Ortenau, dieser wunderbaren Region zwischen Tradition und Moderne, können wir all das erleben: historische Fachwerkhäuser in Gengenbach, die liebevoll restauriert werden. Moderne Holzbauten, die nachhaltig und schön sind. Und vielleicht schon bald die ersten Tiny-House-Siedlungen, in denen Menschen bewusst kleiner, aber nicht weniger reich leben.
Wahrheit seit 800 Jahren
Eine letzte Erkenntnis: Ob mittelalterliche Stube oder modernes Tiny House – am Ende ist es nicht die Größe oder der Prunk, der ein Haus zum Zuhause macht. Es sind die Menschen, die darin lachen, weinen, lieben und leben. Und diese Wahrheit gilt seit 800 Jahren – und wird wohl auch in 800 Jahren noch Bestand haben.
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